Fast sieben Jahre

Montag, 29. Juli 2024

 

 

 

 

 

Heute Nacht hatte ich mehrere Träume von Leonie und Simon.

 

 

 

Es waren mehrere unterschiedliche Träume, an manche Szenen kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, doch zwei davon waren sehr stark und echt.

 

 

 

Ich sah Leonie in einer WG, eine Studenten-WG in einer anderen Stadt oder sogar in einem anderen Land wie Italien oder Frankreich (?). Sie suchte etwas in ihrem Gepäck, sie hockte vor einem Wanderrucksack und trug einen schwarzen (Mens)-Slip, ich bemerkte ihre langen, schönen Haare, die sie vermutlich vorher lange gebürstet hatte.

Sie suchte glaube ich eine Karte für Schluchten-Wege. Später waren es diese Schluchten, die ganz steil hinter den Häusern nach oben gingen, aus grauen, glatten und gewundenen Steinen, die in der Mitte, wo es tiefer rein ging, schwarz wirkten. Ich fragte mich, wie man da überhaupt hochkommen oder klettern konnte, da ich keine Ösen für Gurte oder Kletterseile sah und es auch keine Vertiefungen und Ausbuchtungen im Felsen gab, um sich dort mit den Fingern festzuhalten. Doch es war in mir eine Gewissheit, dass sie das wissen und sich daran erproben und erfreuen würden.

 

Leonies lange, blonde Haare fielen mir immer wieder auf, ich sah sie oft von hinten, doch wenn ich ihr Gesicht sah, lächelte oder lachte sie.

 

Zwischendurch sah ich auch Simon oder hörte, wie sie sich leise unterhielten. Als würde ich in eine andere Welt – in ihre Welt schauen – können.

 

 

Ich erinnere mich noch an eine andere Szene, in der Leonie auf einem Feldweg zu einer Koppel ging, sehr hell beschienen von der Mittagssonne, auch mit ihren wehenden, offenen Haaren. Das Grün der Wiesen, die frisch gemäht waren, schienen in einem sehr hellen grün-gelb zu leuchten, man konnte fast die Erde da hindurch sehen, wenn man genauer hinsah. Und ich roch diese Frische darin. Leonie hatte die braunen, hohen Lederboots an, die Paulina dann trug (eine Leonie-Freundin), bis sie komplett kaputt und durchgelaufen waren. An Leonie sahen selbst alte Sachen schön und edel aus.

 

 

Ich dachte die letzten Tage öfter an einen Post zum Todestag, der bald ansteht.

 

Nächsten Samstag ist der 3. August.

 

Der 7. Todestag.

 

Es kommt mir unwirklich vor, diese sieben Jahre meines anderen Lebens. Dieses Lebens einer verwaisten Mutter, die den Schmerz des Verlustes in ihrer Brust fühlt, manchmal im gesamten Körper. Nach Leonies Tod bin ich eine andere verwaiste Mutter als nach den sechs Tod- und Fehlgeburten meiner Kinder, die ich nicht wirklich kennenlernen konnte. Nicht so wie ein Kind, was lebend und alleine geboren wurde und 23 Jahre wurde, die ich miterleben durfte, in denen ich sie sehen, hören, riechen, berühren, spüren, begleiten durfte.

 

Ich erfahre Trauer als etwas lichtvolles, glitzerndes und wertvolles.

 

Ich liebe jedes Gefühl daran, weil ich dann weiß und spüre, wie tief das Leben sein kann. Es gibt vieles mehr als Oberflächliches und Unterirdisches in diesem Leben.

 

Es gibt Krieg und Wahnsinn für mich in diesem Leben, viel mehr als vor sieben Jahren.

 

Mich interessiert das da draußen nicht, weil es aus endlos vielen Lügen, Täuschungen, Unwahrheiten besteht, die von Menschen gemacht werden.

 

Das echte Leben spielt sich in mir und um mich herum ab. Und dann kann ich mich immer wieder für die Wahrheit, meine Wahrheit entscheiden – was ist für mich gerade wichtig, richtig, wahr?!

 

Die Wahrheit, mit einem toten Kind weiter zu leben ist eine mächtige Essenz von Wahrheit. Sie prägt mein Leben im Fühlen und Denken, im Unterscheiden und in meinen Ängsten.

 

Ich glaube, dass der Tod das ist, auf was ich mich freue, ohne eine Todessehnsucht zu haben. Tod trifft uns alle, wann, das weiß ich nicht, doch dass es nicht schlimm ist, nichts tragisches an sich hat, sondern natürlich ist.

 

Ich lebe. Ich lebe sehr bewusst und tiefsinnig, weil mir bewusst ist, wie schnell Tod das Leben verändert, beendet und verwandelt.

 

Da ich mich seit sieben Jahren intensiv mit dem Tod und dem Weiterleben der Toten in ihrer Welt beschäftige – immer und immer wieder – zu jeder Tages- und Nachtzeit, gehört der Tod zu meinem Leben wie essen, trinken, spielen, lieben, einkaufen, durch den Wald gehen, kochen, schreiben, still sein. Es ist eine wertvolle Beschäftigung, weil es die Endlichkeit des Lebens als Mensch mit Körper und gleichzeitig die Endlosigkeit der Seele bezeugt.

 

Wir werden um den Todestag in den Schwarzwald fahren, zum Wandern in Wäldern, um in der Natur zu sein und Stille zu genießen. Einen 10 Monate alten Bonus-Enkel von Leonies Freundin besuchen und eine gemeinsame Freundin, die vor einigen Monaten von hier ins Markgräflerland zog.

 

Ansonsten ausschließlich wir, als Paar, als verwaiste Eltern, die sich immer dem Moment des Lebens und des Todes bewusst sind.

 

 

Vorgestern hatten wir ein langes Gespräch mit einem Bekannten, dessen Frau vor wenigen Wochen starb. Sie „kämpfte“ vor 7 Jahren um ihr Leben, bekam vier Jahre an Leben geschenkt, um jetzt nach einer Leidensphase doch an ihrer Krankheit zu sterben. Da ist diese Erschütterung zu spüren, all die Gefühle, die wir ebenso kennen. Das Neuorientieren am eigenen Leben mit diesem Verlust, mit dem dieser Mann noch hadert. Es scheint unwirklich zu sein und es fühlt sich an wie ein Traum, nicht real, ungewohnt und leer.

 

Diese Leere tief zu durchforsten, zu erforschen ist ein Segen. Es ist eine nicht alltägliche Möglichkeit und Übung, aus dem Nichts etwas Neues gebären zu lassen, von was wir vorher keine Ahnung haben.

 

Das Leben formt und gestaltet uns neu, es ist magisch.

Wenn wir zurückschauen auf das Leben vor Leonies Tod und auf diesen Moment, an dem wir jetzt stehen und unser Blick aus der Gegenwart in ein kleines Stückchen Zukunft geht, sind wir andere Wesen.

Menschen die anders schauen, anders denken, anders fühlen.

 

Da ist eine unaussprechliche Würde, Güte, Demut, Hingabe, Liebe und Dankbarkeit.

 

Da strahlt ein feines, reines Licht durch uns. Wie eine Lichtaura - die nicht groß ist - doch intensiv leuchtend in uns und auf diesen Moment, an dem wir stehen.

 

Das fühlt sich gut an, stark, lebendig, warm, sicher, geschützt, geborgen.

 

Das Leben ist schön und es ist gut.

 

Im Hier und Jetzt ist ALLES richtig und weise.

 

Ich fühle mich zutiefst gesegnet vom Leben, der Schöpfung, vom endlosen Sein als Seele.